BIRGIT RUTENBERG

 

Birgit Rutenberg, *1962 in Aurich, wuchs in Weener (Rheiderland) auf. Abgesehen von einem dreijährigen England-Aufenthalt (Norwich) ist die Sekretärin Ostfriesland treu geblieben und wohnt heute in Leer. Rutenberg schreibt Kurz-Geschichten, Gedichte und andere Texte (z.B. für den Arbeitskreis Stolpersteine Weener) in hoch- und plattdeutscher Sprache. 2015 veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman „Vier Pfoten und ein Todesfall“, der in ihrem Heimatort Weener spielt und 2018 den Roman „Vier Pfoten im Dünensand“, der auf ihrer Lieblingsinsel Borkum spielt. Mit ihrer plattdeutschen Kurzgeschichte „Dat A un O“ belegte Rutenberg 2018 den 2. Platz des NDR-Wettbewerbes „Vertell doch mal“.

 

Textproben:

Dat A un O

Ik drink mien Tee un kann mien Ogen neet ofwennen. Vör mi up Tafel liggt mien Gebuursurkunn. De hele Tied mutt ik mien Naam lesen. Sünd blot ’n paar Bookstaven up ‘n Stück Papier, man de föhlen sük an,
as Lücht halen na duken dör’t Swemmbad,
as wat weerfinnen, wat lang verschütt was,
as sük verkieken un heel un dall wegwesen.
Um de Urkunn umto liggen Fotos van mi. Van elke Gebuursdag een. Achtuntwintig sünd dat. De heel Tafel is vull van Biller. Biller, de alltied datsülvige wiesen: ’n laggende Anna. Kralloogd kiek ik in de Kamera. Ik bün
‘n blied Kind,
‘n balstürig Wicht,
’n jung Frau, de alltied bovenup is.
Ik was immer neeisgierig, immer up Söök. Ik wull
dat Glück finnen,
de Leevde,
of tominnsten de Wahrheid.
Dat willen all Lüü, ik weet. Ik segg ja ok neet, dat ik wat Besünners bün. In’t Tegendeel, ik bün nettso normaal as ji. Ik bün mennigmaal
over’t Stüür komen,
dörnannerlopen,
in’t Wilde raakt.
Ik kunn mi smaals sülvst neet stahn sehn un harr dat Geföhl, mi sülvst neet tofaat to kriegen.
Ik nehm en Foto in d` Hand. Mien darteihnde Gebuursdag. De hebb ik noch leep good in d` Kopp. Mama harr mi en Kleed schunken, de ik neet antrecken wull. Oma was för mi instahn un hett verklaart, dat dat Glück van en Minske neet van en Büx of en Kleed ofhangt. Se see: “Dat A un O van’t Leven is, dat man binnen blied is – buten kann man utsehn as man will.”
Mit mien Oma was ik alltied up een Bredd. Mien Moder was düll un mien Vader naderhand ok. Mien Pubertät was ‘n stuur Tied – neet blot för mi.
Ik legg de Foto weer daal un griep na mien dreeuntwintigste Gebuursdag. Hier seh ik ut as en Mengsel van ‘n Wiev un ’n Keerl. Ik hebb heel kört Haar.
Bün ik ‘n Froo?
Bün ik ‘n Mann?
Ik weet ’t neet - womögelk wat daartüsken.
Mien Oma see: “Man fallt neet alltied up sien Bottersied. Smalls mutt man sülvst nahelpen.” Un dat hebb ik doon. In de komende Jahren hebb ik mien Familie vööl tomood,
dat weet ik,
dat is so,
ik kunn neet anners.
Ik hebb seggt: „Bedaart jo. Breei word neet so heet eten as he upscheppt word.” Man ik kunn de  Daalslag van mien Ollen verstaan, se hebben
hör Dochter verloren,
‘n Söhn kregen,
un mussen dat ok noch de Nabers binannerpulen.
Lesterhand see mien Vader heel dröög: “Bi wat is wat”, un sien laggende Ogen, weren de mooisten, in de ik mien Leevdag keken hebb.
Ik drink mien Tee un kann de Ogen neet ofwennen. Vör mi up Tafel liggt mien neei Gebuursurkunn. De hele Tied mutt ik mien Naam lesen: ONNO in Stee van ANNA.
Wat för ’n Geföhl!
Wat för’n Dag!
Wat för ’n Leven!

 

„Lepus“ nennt man echte Hasen,
sie leben auf der ganzen Welt.
Sie hoppeln über Beet und Rasen,
so wie es ihnen grad gefällt.

Ihr Fell ist braun und grau und weiß,
es passt sich gut der Landschaft an.
Das ist der Grund, wie jeder weiß,
warum man sie kaum sehen kann.

Die Ohren eines jeden Has‘,
sind lang und zwar exorbitant,
drum sagen wir ganz oft zum Spaß:
„Ich zieh Dir gleich die Löffel lang“.

 Der Kopf ist dünn, die Augen groß
so kann der Has‘ gut sehen,
die Beine arbeiten famos,
beim Rennen und beim Gehen.

Er flitzt im Zickzack und im Kreis,
schlägt oftmals einen Haken
durch Rübenäcker und auch Mais,
sogar in unserem Garten.

Der Hase hat auch lange Zähne,
doch beißen tut er nicht,
er knabbert an der Landschaft Mähne,
nur das ist seine Pflicht.

Er mümmelt Gräser, Kräuter, Blüten
und denkt sich nichts dabei.
Als müsse er sich vor nichts hüten,
fühlt er sich unschuldig und frei.

Der Hase hat nicht mal ein Haus,
er liebt das weite Land,
so duckt er sich jahrein, jahraus
nur platt in Gras und Sand.

Die Mulde, die auch oft aus Moos,
nennt man des Hasen Sasse,
dort sitzt er dann ganz regungslos,
was typisch für die Rasse.

Im Frühling boxt der Hase gern,
doch nur unter Kollegen,
es geht um Bräute nah und fern
und um den Kindersegen.

Ansonsten ist der Hase brav,
tut niemand was zuleide.
Und trotzdem findet er kaum Schlaf
auf grüner weiter Weide.

Sein Fleisch schmeckt nicht nur einem Fuchs,
nein, auch der Mensch will es genießen,
darin liegt wohl die ganze Krux,
dass Jäger ihn erschießen.

Und dann gibt’s noch die vielen Wagen
auf Straßen, über die der Hase rennt,
dort wird er oftmals überfahren,
weil er nicht die Gefahr erkennt.

Und schlimm ist auch die ganze Gülle,
die Bauern auf ihr Land verteilen,
da kann der Has‘ in dieser Fülle
nicht mehr in Ruhe dort verweilen.

Ihr seht, der Hase hat es schwer,
wir müssen ihn beschützen,
sonst gibt’s den Mümmelmann nicht mehr
und das kann keinem nützen.

Was wär die Welt denn ohne Hasen?
Ein Osterfest ganz ohne ihn?
Wie kahl wäre der grüne Rasen,
wenn‘s ihn nicht gäbe weiterhin?

Drum lasst uns unsere Hasen schonen,
schießt bunte Fotos von ihm nur,
und lasst ihn endlich friedlich wohnen
in unserer wertvollen Natur.

Am besten fangen wir gleich an,
mit Kunst im Hasenkabinett,
damit ein jeder sehen kann:
Wir finden Hasen richtig nett.

 

Die Tafelrunde

Wir sind eine Familie und leben zusammen unter einem Dach. Wir, das sind Oma, Opa, Vater, Mutter und drei Kinder – zwei Jungen und ein Mädchen. Gemeinsam haben wir bewusst beschlossen, als Großfamilie zu leben, weil wir der Meinung sind, dass alle davon mehr profitieren als verlieren. Es klappt ziemlich gut – sofern alle die Regeln einhalten, die wir selber aufgestellt haben. Achtung und Respekt stehen ganz oben auf unserer Liste und der Rest ergibt sich daraus fast von allein. Wie gesagt: Es klappt ziemlich gut.

Mein Mann nennt uns „die Waltons“, weil wir zur Nacht immer „gute Nacht John Boy, gute Nacht Jim-Bob!“ rufen, auch wenn die Kinder ganz anders heißen. Gute Rituale übernehmen wir gerne. Sie verbinden, machen eine Art Clan aus uns und schenken uns Worte, gerade dann, wenn sie uns fehlen. „Rituale sind wie Pflaster, die man auf Wunden kleben kann“, meint Oma. 

Ich lege viel Wert auf Einhaltung von Abläufen. „Die Mahlzeiten sind die Pfeiler unseres Tages“. Niemand darf fehlen – jedenfalls nicht ohne triftigen Grund. In unserer großen Küchen steht ein riesiger Tisch – ähnlich wie bei den Waltons. Da die Essenszeiten minutiös stattfinden, hatten die Kinder die Idee, die starre Sitzordnung abzuschaffen. Seitdem setzt sich jeder da hin, wo er gerade Lust hat. Wir haben festgestellt, dass sich immer die ans Kopfende setzen, die etwas mitzuteilen haben. Diese neue Art Tafelrunde ist inzwischen so ausgefeilt, dass jeder von uns an ihr erkennen kann, wie es dem anderen geht. Opa sagt: „Eine Formation ist eine stumme Botschaft, die nur eine Gruppe formen kann, die sich versteht.“

An diesem Tisch wird nicht nur gegessen, sondern auch gespielt, Hausarbeiten gemacht, gebastelt und gewerkelt – aber vor allem geredet, diskutiert, gelacht und geweint – alles zu seiner Zeit. Der Tisch ist wie ein Baum in der Mitte eines Dorfes.  Er ist unser  Mittelpunkt, auf den wir täglich zusteuern.

Acht Stühle stehen um den Tisch; drei an jeder langen Seite und je einer an den Kopfenden. Da wir jedoch nur sieben Personen sind und daher immer ein Platz frei bleibt, haben wir beschlossen, jemand Imaginäres einzuladen, wenn uns danach ist. Der, der die Person einlädt, stellt noch ein Gedeck auf den Tisch und uns die Person vor.

Die merkwürdigsten Gäste saßen schon an unserer Tafel. Die Kinder brachten zunächst Spongebob, Pippi Langstrumpf und andere Freunde aus ihren Fernsehserien an unseren Tisch und später Hannah Montana, Heidi Klump und Dieter Bohlen. Wir Eltern setzten Prinz Charles, Mahatma Gandhi und Helmut Schmidt in unsere Runde, aber auch die Beatles und Supertramp. Die Großeltern luden Kaiser Wilhelm ein und Roosevelt, sowie Freud, Brecht und Heinrich Heine. Sogar Jesus saß schon einmal zwischen uns. Manchmal kommen auch alte Verwandte oder Freunde aus längst vergangenen Zeiten dazu. Zum Beispiel hat Oma letzte Woche Wilhelmine Siefkes eingeladen, mit der wir alle brav plattdeutsch sprachen. Die Keerlke-Geschichte dauerte länger als das Abendessen und Frau Siefkes ging erst, als es dunkel war und ich eine Kerze angezündet hatte.

Heute sitzt erstmalig ein Begriff an unserem Tisch – also kein Mensch, Tier oder Fabelwesen. Lisa hat die „modernen Zeiten“ eingeladen, denn sie ist der Meinung, dass nur sie diese kennt und es an der Zeit sei, sie uns vorzustellen. Mit ihren dreizehn Jahren erklärt sie, was „cool“ und „in“ ist und benutzt Worte, die die modernen Zeiten ausmachen. „Chillen“ findet sie „bombe“, „breit“ sein dagegen „assig“. Sie prahlt damit, wie „cremig“ es ist, etwas aus dem Internet zu „saugen“ und wie „dick geflasht“ etwas sein kann, wenn es „funzt“. Sie bekommt fast einen „Lachflash“, als sie erzählt, dass es „stylisch“ ist, gleichzeitig zu „what’s appen“ und bei „Mecces“ zu „snacken“, statt mit Eltern und Großeltern in der Küche zu sitzen.

Alle hören angestrengt zu, und als Lisa am Ende ist, fragt Oma leise: „Du hältst uns also für Vollpfosten, was?“, und bevor Lisa antworten kann, meint Opa: „Nun pimper dich mal nicht so auf, wir waren alle mal jung und ich war sogar ziemlich abgespaced.“ Oma legt ihre Hand auf seine und lächelt. „Das kann ich bezeugen. Er war ganz schön tight.“

Lisa fällt die Kinnlade runter und sie schaut ihre Großeltern mit offenem Mund an.

„Abgefuckt“, murmelt ihr großer Bruder bewundernd. Wir lachen.

„Nur weil ihr andere Worte benutzt, heißt das noch lange nicht, dass ihr moderner seid als wir“, meint Opa, „etwas de luxe finden heißt doch nichts anderes, als dass es großartig ist, das kann doch jeder Horst im Internet checken.“ Lisa sackt in sich zusammen.

 „Hammer, Opa!“, ruft ihr kleiner Bruder aufgeregt, weil er sich anscheinend freut, dass seine große Schwester jetzt gar nicht mehr so modern aus der Wäsche guckt.